Oma & Bella: Ein Kochbuch voller Wärme und Zwiebelduft
Na toll. Ich bin ja wohl die Meisterin im Filmeverpassen. Wenn es um Kinofilme (oder Ausstellungen oder oder) geht, komme ich mir immer vor wie in Zeitlupe versetzt: Ich sehe einen interessanten Film am Horizont herannahen, sage mir noch: „Den will ich aber auf jeden Fall sehen!“, und während ich bedächtig nicke, ist er – wuusch – schon vorbei. So ging es mir mit „Oma & Bella“, dem Dokumentarfilm von Alexa Karolinski über ihre Großmutter und deren Freundin Bella: zwei Holocaust-Überlebende, die in Berlin zusammen wohnen und beim Kochen jüdische Traditionen wachhalten.
Kürzlich sind mir Oma und Bella bei Katherine Sacks wiederbegegnet: als Buch. Denn eigentlich hatte Karolinski vor, einfach nur die Rezepte der beiden alten Damen zu sammeln, damit sie nicht verloren gehen. Daraus wurde der Film, und zu dem Film gab es dann doch noch das Kochbuch. Als ich das gesehen habe, musste ich es mir bestellen. Es kam, und ich habe mich verliebt. Und zwar gleich beim ersten In-die-Hand-Nehmen: Der ein bisschen glänzende Textileinband erinnert ein bisschen an die Nachthemd-Kochbekleidung der beiden Protagonistinnen, in der man sie auf einem der Fotos herumlaufen sieht: ein bisschen altmodisch, aber warm und weich und irgendwie heimelig.
Kochen mit und nach Gefühl
Es ist schon lange her, dass mich ein Kochbuch so berührt hat. Ich hatte das Gefühl, darin zwei echten Menschen zu begegnen, ihre Stimmen zu hören, ihre kleinen Eigenheiten beim Kochen beobachten zu können: jede Arbeitsfläche gleich abzuwischen zum Beispiel, oder schon mal mit dem Abschmecken anzufangen, lange bevor irgendetwas überhaupt gar sein kann. Das ganze Buch strahlt dieses Persönliche aus: die Fotos von Bella Lieberberg, die Illustrationen von Joana Avillez, die Texte. Dabei gibt es durchaus Kochbücher mit wesentlich mehr Geschichten, Anekdoten, Lesestoff. In „Oma & Bella“ beschränkt sich der Text (übrigens durchgängig englisch und deutsch) auf eine ausführliche Einleitung, in der Oma, Bella und ihre innige Beziehung zum Kochen und Essen vorgestellt werden, und ein paar Anmerkungen zur Vor- und Zubereitung der Speisen.
Das wars. Die Rezepte selbst kommen sehr pur daher, wenn man einmal von den vielen, vielen Zeichnungen absieht. Und trotzdem erzählen auch sie so viel. Sie stammen aus der Tradition der osteuropäischen jüdischen Küche, denn Regina Karolinski (Oma) stammt aus Polen, Bella Katz aus Litauen. Allerdings wurden die beiden in einer Zeit geboren, die es ihnen nicht mehr erlaubte, diese Traditionen in der heimischen Küche kennen- und kochen zu lernen. Beide kamen jung ins KZ, beide überlebten, beide verloren ihre Familien. So mussten sie sich die überlieferten Gerichte, die nun in dem Kochbuch versammelt sind, selbst aneignen: Gefilte Fisch (Fischklößchen), Hühnersuppe mit Matzahknödeln, Kugel (Auflauf), Zimmes (süße Möhren) und Rugelach (gefüllte Hörnchen).
Vertraute Rezepte, fremder Geschmack
Die Namen sind mir alle vertraut, aber ich kenne die Gerichte aus Büchern, nicht aus eigenem Erleben und Erschmecken. Und auch deshalb hat mich das Buch so berührt: weil ich mich unwillkürlich beim Blättern und Lesen gefragt habe, ob wohl Nudelkugel heute ebenso selbstverständlich zu meinem Kochrepertoire gehören würde wie Lasagne, wenn ein entscheidender Teil der deutschen Geschichte anders gelaufen wäre. Wie und was haben jüdische Familien in Berlin, Hamburg oder Frankfurt gekocht, bevor sie vertrieben oder umgebracht wurden? Die gleichen Gerichte wie Oma und Bella? Oder andere? Wieder einmal begreife ich, dass die Nazis damals nicht nur unvorstellbar viele Menschen ermordet, sondern Deutschland auch um ein großes kulturelles Erbe ärmer gemacht haben. Was sie wohl genauso beabsichtigt hatten.
Dafür, dass einem die Geschichtszerknirschung nicht den Appetit verdirbt, sorgt das Kochbuch zum Glück selbst. Bei all den großen Themen, die im Hintergrund zu ahnen sind, geht es darin nämlich doch um einen kleinen und genussreichen Ausschnitt aus dem Alltag zweier höchst lebendiger Menschen. Mir hat besonders gut gefallen, dass Oma und Bella viele ihrer Rezepte erst einmal damit beginnen, ganz in Ruhe Zwiebeln anzuschwitzen. Nicht etwa fünf Minuten lang, wie ich das tue, sondern vierzig, bis sie goldbraun und süß sind. Der Duft, der ihre Küche dabei erfüllen muss, steigt mir beim Lesen in die Nase, und ich bekomme größte Lust, die Rezepte auszuprobieren. Ganz oben auf der Liste stehen der Nudelkugel (mit reichlich Zwiebeln) und die gefüllten Paprikaschoten, bei dem Apfel der Sauce vermutlich eine süßsäuerliche Note gibt.
Eine winzige Anmerkung kann sich die Kochbuchlektorin in mir nicht ganz verkneifen: Es hätte das Nachkochen etwas vereinfacht, wenn die Zutaten immer in der Reihenfolge ihrer Verarbeitung aufgezählt worden wären, wie es bei Kochbüchern üblich ist. Hier muss man beim Rezeptlesen immer gleichzeitig die Zutatenliste rauf und runter abscannen, um zu der genannten Zutat und vor allem der notwendigen Menge zu gelangen. Aber dem Charme des Buches tut das keinen Abbruch. Das profitiert übrigens auch davon, dass die Gestaltung auf sämtliche Kunstgriffe verzichtet, die einem üblicherweise in Büchern zu „Omas Küche“ begegnen: keine Spitzendeckchen weit und breit, keine Schnörkelschriften, nur große Klarheit und viel Raum. Emotional ist „Oma & Bella. Das Kochbuch“ trotzdem. Sehr.
Alex Karolinski:
Oma & Bella. Das Kochbuch – The Cookbook (nur noch antiquarisch oder direkt bei der Autorin)
Illustrationen: Joana Avillez
Fotos: Bella Lieberberg
Englisch-Übersetzung: James Tarmy
ISBN 978-3-00-039258-0
Nachtrag: Den Film gibt es übrigens auf DVD zu kaufen. Auf diese Weise habe ich ihn jetzt doch noch gesehen und bin sehr froh darüber. Empfehlung!
- Lieblingsrest: Kartoffel-Pfeffer-Aufstrich
- Kochen als Selbstverwirklichung. Extrem.
Hier hat noch niemand kommentiert? Das ist ja die Höhe! Ich hab‘ wohl damals noch nicht mitgelesen … Shame on me! So ein wunderbarer Film, ich sitze hier immer noch ganz berührt. Wenn ich mich dann gleich mal aus dieser Rührung lösen kann, schau ich mal, ob ich das Buch bestellt bekomme. Danke für den großartigen Beitrag!
Ich freue mich, dass Dir der Film gefallen hat! Und darüber, mal wieder an Film und Buch erinnert worden zu sein.