Biokisten, Zicklein und Hühnerbrühe: Besuch im Ökodorf Brodowin
Da stehen sie zu Hunderten auf den Feldern: große Vögel mit stakseligen Beinen und puscheligem Federkleid. „Wer Kraniche sehen will, kommt am besten nach Brandenburg“, erklärt Stefanie Röder vom Tourismus-Marketing Brandenburg, die uns im Reisebus zum Ökodorf Brodowin führt. Wir, das ist eine Gruppe von Teilnehmer*innen am Biolebensmittelcamp 2018, und wir sind eigentlich nicht wegen der Kraniche gekommen, die wir im Vorbeifahren bewundern. Auch die brandenburgischen Landschaft mit ihren vielen Naturschutzgebieten hat uns nicht hergelockt – „viel Gegend hier“, bemerkt einer im Bus. Nein, wir wollen uns ein Wochenende lang über das austauschen, was die Biobranche bewegt.
Der Ausflug nach Brodowin gehört zum Rahmenprogramm. Ich habe mich angemeldet, weil ich neugierig bin auf ein ganzes Dorf, das den Öko-Gedanken lebt. So viel sei vorweggenommen: Ich werde es nicht finden; hinter der Marke „Ökodorf Brodowin“ steckt ein Demeter-Hof, der zwar in Brodowin liegt, aber keineswegs das gesamte Dorf umfasst. Im Gegenteil, so höre ich es im Verlauf des Wochenendes läuten: Dorf und Hof sind sich keineswegs immer grün. Dabei wurde wohl die ursprüngliche Idee aus Kurz-nach-Wende-Zeiten, mit der Umstellung auf Bio die Arbeitsplätze der LPG und die umliegende Landschaft zu sichern, durchaus in der Mitte des Dorfes geboren. Von ungefähr 500 Dorfbewohner*innen arbeiten heute rund 30 auf dem Hof; ein Drittel der Belegschaft. Der Hof hat inzwischen eine Stiftung gegründet und finanziert daraus soziale und ökologische Dorfprojekte, „um der Gemeinschaft etwas zurückzugeben“, wie Geschäftsführer Ludolf von Maltzan erklärt.
Wir stehen inzwischen in dem gemütlichen Hofladen von Brodowin und hören von ihm etwas zur Entwicklung des Demeter-Hofes. Die Anfänge waren nicht einfach; es mussten erst mal Abnehmer für die Bioprodukte gefunden werden. Heute ist Brodowin einer der größeren Biokisten-Anbieter für Berlin und Umland, und viele Berliner kommen her, um ihren Kindern mal einen „richtigen“ Bauernhof zu zeigen. „Wir sind so was wie Bullerbü für die“, wird es später noch bei der Hofführung heißen. Die überall hängenden Schilder, die auf Gefahren hinweisen („Herunterfallende Strohballen können tödlich sein!“) künden davon, dass das Verhältnis zwischen Großstädtern auf der Suche nach dem Bauernhofidyll und der real existierenden Landwirtschaft nicht immer reibungslos ist.
Wir werfen von außen einen Blick in die verglaste Molkerei, in der längst auch Milch aus anderen Demeter-Betrieben zu den Brodowiner Milch- und Käsespezialitäten verarbeitet wird. Weil der Wind aber doch recht eisig pfeift, sind wir froh, als wir im Kuhstall die Produzentinnen des Rohproduktes besuchen können. Die 220 Milchkühe des Betriebs sind in vier Gruppen aufgeteilt. Obwohl also 40 bis 60 Kühe zusammenstehen, herrscht im Großen und Ganzen gelassene Ruhe, trotz der neugierigen Besucher*innen.
Das liegt auch daran, dass man von dem Konzept des offenen Laufstalls mit Tiefstreu wieder weggekommen ist. Früher – also nach der Anbindehaltung auf Vollspaltenböden aus LPG-Zeiten – wurde auf dem Mist der Tiere regelmäßig eine neue Lage Stroh ausgebracht, den die Kühe festtraten. Gemistet wurde nur in großen Abständen, was für einen weichen und warmen Untergrund sorgte – allerdings auch zur Folge hatte, dass die Tiere mit den Eutern in ihrem eigenen Mist lagen. Das erhöht die Gefahr von Euterentzündungen. Jetzt können sich die Tiere immer noch frei im Stall bewegen, aber es gibt mit Metallgittern abgetrennte „Einzelkojen“, in denen sich die Tiere hinlegen können – diese Liegefläche halten sie sauber. Auf diese Weise liegen die Kühe zudem außerhalb der Laufwege ihrer Kolleginnen. Das heißt auch: Keine muss ständig aufstehen und aus dem Weg gehen, nur weil eine ranghöhere Kuh jetzt genau hier entlanglaufen möchte. „Seitdem ist es im Stall viel ruhiger geworden“, erklärt Susanne Poinke.
Außerhalb des Stalls sind die Kälber untergebracht, jedes in einem einzelnen „Iglu“ mit kleinem Auslauf. Die Kälber bleiben eine Woche bei der Mutter, danach werden sie zwar mit Vollmilch aufgezogen, aber von Menschenhand. Bei dem Anblick der jungen Tiere bin ich mal wieder froh, dass beim Kattendorfer Hof, von dem ich meine Milch bekomme, inzwischen die Ammenkuhhaltung praktiziert wird und die Kälber zumindest von Kühen aufgezogen werden, wenn auch nicht von ihren eigenen Müttern. Vermenschliche ich die Tiere zu sehr, wenn mir die Kälber in ihren Einzeliglus leidtun? Ich bin keine Landwirtin; ich stecke nicht im ständigen Dilemma zwischen Tierwohl und Wirtschaftlichkeit. Und wie viele Menschen gibt es wohl, die für ihre Milch genug zu zahlen bereit wären, dass man die Kälber bei den Müttern trinken lassen und dafür geringere Melkausbeute in Kauf nehmen könnte? Die Öko-Melkburen betreiben diese mutterkuhgebundene Kälberaufzucht, aber ihre Milch kostet auch. Mehr als die Bioladen-Normalmilch, deutlich mehr als jede konventionelle Supermarktmilch.
Wir schauen noch in den Ziegenställen vorbei: 300 Milchziegen sorgen in Brodowin für Nachschub an Ziegenkäse. Auch hier sind die Zicklein von ihren Müttern getrennt, aber zumindest drängen sie sich als ganzer Kindergarten unter den Wärmelampen.
Nach einem schnellen Mittagessen, bei dem wir natürlich auch die Eigenprodukte des Hofs verkosten (großartiger Mozzarella!), geht es wieder in den Bus und weiter nach Eberswalde, wo die Brodowiner Biokisten gepackt werden. 1.900 Kund*innen werden von hier aus pro Woche beliefert, und zwar längst nicht mehr nur mit eigenem Gemüse. Natürlich werden hier rund ums Jahr Tomaten und Zucchini in die Kisten gepackt, wenn es gewünscht wird – die wenigsten wollen sich den ganzen Winter nur von Kohl und Knollen ernähren. Auch Fleisch und Milchprodukte – aus Brodowin und anderswo – kommen in die Kisten, und auf Wunsch auch Trockenprodukte von Mehl über Kekse bis Nudeln. Im Sommer können die Kund*innen auch mal Blumenerde oder Grillkohle dazubestellen.
Die Biokiste ist auf diese Weise längst eine Art Bioladen-Lieferservice geworden, bei dem alles zu jeder Zeit verfügbar ist. Wer nicht von selbst weiß, was regional und saisonal gerade verfügbar ist, der erfährt es auch durch eine Biokiste nicht. Ein bisschen schade finde ich das schon. Andererseits: Auch Ökokisten-Anbieter wollen verkaufen. Und wenn die Kundschaft alles zu jeder Zeit will, dann ist das vermutlich eine Entwicklung, der man sich nicht verschließen kann, wenn man nicht das Geschäftsmodell infrage stellen möchte. Ach ja: „alles zu jeder Zeit“ heißt außerdem, bitte selbstverständlich makellos. Auch Bio-Fans akzeptieren längst keine Wurmlöcher mehr in den Äpfeln.
In Brodowin hat man einen Weg gefunden, die nicht ganz makellose Ware doch zu verwerten: das Weckglas. In der Küche der Biokistenstation wird eingekocht, was das Zeug hält. In langen Regalen stehen die Fertiggerichte, die bei den Kund*innen zu Hause nur noch warm gemacht werden müssen: Gulasch und vegane Bolognese, Currys und Eintöpfe und Brühe. Hier landen auch die Brodowiner Legehennen, wenn im Hühnerstall ein Generationenwechsel fällig ist. Und hier landen ihre Brüder. Denn die werden nicht gleich nach der Geburt geschreddert oder vergast, sondern in einem Bruderhahn-Projekt mit aufgezogen, bis sie irgendwann zu Hühnerfrikassee oder Hühnerbrühe werden. Eine großartige Möglichkeit!
Im Bus zurück zum Landgut Stober, auf dem ein paar Stunden später das Biolebensmittelcamp „richtig“ losgeht, denke ich mal wieder darüber nach, was wohl besser ist: wenn sich Bio am Markt orientiert und den Menschen das gibt, was sie wollen, weil die Bio-Landwirtschaft nur so eine Breitenwirkung erzielt? Oder wenn die ursprünglichen Prinzipien einer wirklich nachhaltigen Lebensweise konsequent durchgezogen werden, auf die Gefahr hin, dass Bio mit Verzicht und Freudlosigkeit assoziiert wird und in der Nische bleibt? Diese Fragen werden mich – und viele andere Teilnehmer*innen des Biolebensmittelcamps – auch das restliche Wochenende über immer wieder beschäftigen (mehr über das Geschehen auf dem Barcamp gibts im Blogartikel Wert-volle Diskussionen: Das Biolebensmittelcamp 2018). Eine einfache Antwort gibt es nicht, so viel ist klar. Mit Brodowin habe ich mal wieder einen Hof kennengelernt, auf dem vielleicht nicht alles besser ist als anderswo, aber manches schon. Und das Bemühen um gute Lösungen für Umwelt, Tiere und Menschen ist spürbar.
Offenlegung: Am Biolebensmittelcamp konnte ich mit einem Bloggerticket kostenlos teilnehmen. Anreise, Unterkunft und Verpflegung habe ich selbst gezahlt.
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