Marseille für Foodies: 12 kulinarische Entdeckungen (Teil 1)
Marseille! Fünf Wochen lang habe ich dort Anfang des Jahres mein Zuhause (und Büro) aufgeschlagen. Hingefahren war ich, ohne zu wissen, was mich erwartet – es war mein erster Besuch. Wieder abgereist bin ich mit deutlichem Ziehen in der Herzgegend, denn in diesen wenigen Wochen hatte ich mich bis über beide Ohren verliebt: in die Lebendigkeit einer internationalen Stadt voller ganz unterschiedlicher Kulturen und Menschen.
In bunt bemalte Wände und schäbige Ecken. In die Kirche Notre Dame de la Garde, die auf ihrem Hügel über die Stadt wacht und immer wieder hinter Dächern sichtbar wird.
In Kulturprojekte, Museen und eine Atmosphäre, in der Ideen einfach mal ausprobiert werden. In die großartige Landschaft der Calanques, der wilden Küstenlinie.
In graugefleckte Platanen und Sonnenstrahlengeglitzer auf dem Mittelmeer. In die gelassene Stimmung. Marseille, ich komme wieder!
Aber vorher zeige ich euch ein paar der kulinarischen Highlights, die ich in der südfranzösischen Hafenstadt entdeckt habe. Habt ihr Lust? Dann geht’s los mit den ersten sechs; die übrigen folgen nächste Woche (sonst wär’s allzu lang geworden).
Bouillabaisse-Bausatz am Alten Hafen
Wenn es ein Gericht gibt, für dessen Erfindung sich die Marseiller stolz auf die Schultern klopfen, dann ist es wohl die Bouillabaisse. Die Fischsuppe entstand als Arme-Leute-Gericht. In ihr verarbeiteten die Fischer die Reste des Fangs, die sie nicht verkaufen konnten: allzu kleine Fische nämlich, die sie mit Gemüse kochten und mit Brot aßen.
Die kleinen, aromatischen, aber grätenreichen poissons de roche mutet man in Marseille heute keinem Restaurantgast mehr zu. Sie werden nur noch verwendet, um den Fischfond für die Bouillabaisse zu kochen. Den würzt man mit Safran und Pastis und gart darin lauter Mittelmeer-Edelfische: Drachenkopf, Petersfisch, Rotbarben und Meeraal. Das Brot gehört immer noch in die Suppe, und dazu kommt die knoblauchwürzige Rouille. Das Ganze hat sich zu einem Luxusgericht entwickelt, für das man in Restaurants Preise locker 55 Euro bezahlt. (Empfohlen wurden mir für Bouillabaisse die Restaurants Chez Fonfon und L’Épuisette, beide im Vallon des Auffes gelegen.) Ganz ehrlich: Das war mir zu teuer. Und mit der Tradition des Gerichts hat es für mich auch nichts mehr zu tun.
Der habe ich mich am Alten Hafen von Marseille dafür umso näher gefühlt. Dort stehen nämlich tagtäglich ein paar Stände mit fangfrischem Fisch. Diese Veranstaltung als Fischmarkt zu bezeichnen, weckt vielleicht falsche Erwartungen: Hier gibt es keine gigantischen Auslagen mit fünfzig Sorten Fisch und Meeresfrüchten vom Großmarkt auf Bergen von Eis. Nein, in den einfachen Wannen liegt das, was die einzelnen Fischer halt so reingebracht haben, und hier findet man sie tatsächlich, die kleinen, bunten poissons de roche, die der Bouillabaisse so viel Aroma verleihen. Vielleicht koche ich beim nächsten Aufenthalt in Marseille die klassische Fischsuppe einfach selbst. Wenn ich dann eine vernünftige Küche zur Verfügung habe.
Aber auch ohne: Allein zum Gucken lohnt sich der morgendliche Besuch am Alten Hafen auf jeden Fall! Nicht nur wegen der Yachten, des Riesenrads und des spiegelnden Schattendachs Ombrière von Sir Norman Foster. Auch wegen der Fische.
Fischmarkt am Vieux Port, Quai de la Fraternité, täglich 8 bis 13 Uhr
Fisch in Dosen
Jawoll, Fischkonserven, und noch nicht mal aus Marseille. Trotzdem eine kulinarische Entdeckung. Eines Tages stolperte ich auf dem Heimweg vom Französischkurs ganz zufällig in einen Laden mit Regalen voller kunterbunter Konservendosen: ein Fabrikverkauf der bretonischen Fischfabrik La Belle-Îloise. Ich probierte von den Sardinen, von der Makrele – und wäre am liebsten gleich zum Mittagessen geblieben. Als ich dann auch noch ein Foto aus dem Laden bei Instagram postete und sofort den Kommentar bekam: „Kaufen! Die sind toll und in Deutschland echt schwer zu kriegen!“, da war klar, dass ein paar Fischdosen ins Gepäck mussten.
Die Qualität der Konserven kommt nicht von ungefähr: In der Fabrik werden alle Fische noch von Hand entgrätet und eingedost, und Konservierungsstoffe sind tabu. Der Nachteil am Laden ist allerdings, dass dort alle Sorten nur in Gebinden zu drei oder fünf Dosen angeboten werden – Fabrikverkauf halt. Es gibt allerdings verschiedene Geschenkpackungen mit einer kleinen Auswahl verschiedener Sorten, jeweils in einer hübschen Blechdose. So eine habe ich jetzt mitgenommen und freue mich schon auf Sardinen in Tapenade und Makrelenfilets mit Zitrone und Kräutern.
Boutique La Belle-Îloise, 55 rue Paradis, 13006 Marseille
Navettes: gebackene Schiffchen
Klar, dass in einer Stadt, die seit jeher vom Hafen lebt, auch Süßigkeiten einen nautischen Dreh bekommen! Navettes, also Schiffchen, heißt diese Marseiller Spezialität: keksig-rösche Gebäckstangen mit dem Duft von Orangenblütenwasser. Es gibt sie in jeder Konditorei, kurz oder lang, breit oder schmal. Aber die besten, sagen die Marseiller (zumindest die, die ich gefragt habe), werden in einer Bäckerei hergestellt, die sich darauf spezialisiert hat, und das seit 1781: Le Four des Navettes.
Die perfekte Gelegenheit, sie zu probieren, kam am 2. Februar. An diesem Tag feiert man den 40. Weihnachtstag – bekannter (zumindest unter Katholiken) als Lichtmess, auf Französisch Fête de la Chandeleur. Traditionell gibt es in Frankreich an diesem Tag Crêpes, aber die Marseillais haben ihre eigene Tradition entwickelt und essen Navettes.
Also machte ich mich auf den Weg zum Four des Navettes: vorbei am alten Hafen, den Hügel hinauf in Richtung der romanischen Kirche Abbaye St. Victor. Schon eine Straße weiter hing der Duft nach Orangenblütenwasser in der Luft. Als ich bei der Bäckerei ankam, reichte die Menschenschlange bis auf die Straße. Zum Glück ging es trotzdem schnell vorwärts – kein Wunder, denn innen arbeiteten sechs, sieben Angestellte im Akkord. Die einen packten die frischen Navettes, hier rekordverdächtige zwanzig Zentimeter lang, dutzendweise in Tüten, die anderen reichten sie über den Ladentisch. Und die Leute kauften gleich ein, zwei, fünf Dutzend! Weniger als ein Dutzend gab es erst gar nicht.
Wieder draußen angekommen, setzte ich mich auf eine Bank mit Blick über den Hafen und biss in meine erste Navette. Mmh! Noch warm, außen knusprig und innen weich, mit dem intensiven Aroma von Orangenblütenwasser. Ein älterer Herr mit Hund, der sich neben mich setzte, erklärte mir, das große Lichtmess-Spektakel hätte ich leider verpasst. Denn um 5 Uhr morgens war die schwarze Madonna übers Meer gekommen und in großer Prozession wieder in ihre Heimat, die Abbaye St. Victor, zurückgebracht worden. Dabei hat der Bischof auch, wie in jedem Jahr, den Ofen der Bäckerei gesegnet. Wie nett von ihm!
Nun gut, für das ganze Spektakel hätte ich wirklich seeeehr früh aufstehen müssen. Aber der Madonna stattete ich dann doch noch einen kurzen Besuch ab. Die Navettes gibt es übrigens das ganze Jahr über. Zum Glück! Denn nach diesem ersten Dutzend musste ich noch mal Nachschub beschaffen … Das Gebäck wird übrigens nach ein paar Stunden keksig-hart und hält sich dann wochenlang.
Le Four des Navettes, 136, rue Sainte, 13007 Marseille
Ein altmodisches Café: Plauchut
Mein Lieblingscafé in Marseille! Navettes gibt es hier selbstverständlich auch. Und nicht nur eine Sorte: Auf der Theke stapeln sich die Gebäckschiffchen mit Mohn, mit Ingwer, Paprika und Anis, selbst mit Kreuzkümmel (ja, die schmecken wirklich!). Aber was in der Theke in Reih und Glied an Süßem aufmarschiert, überwältigt mich noch mehr. Tartes au citron, Éclairs, Millefeuilles und viele andere klassische und moderne Patisserie-Kunststücke gibt es zwar in Frankreich fast an jeder Ecke, aber nicht alle schmecken auch so toll, wie sie aussehen. Das ist hier anders. Alles, was ich bei meinen diversen Besuchen probiere, macht mich gleich süchtig nach mehr.
Mein persönlicher Favorit heißt Castel und besteht aus Mandelbaiser mit Creme. Bei Plauchut sitzt obenauf eine neckische Belegkirsche, und genau die zeigt, warum ich das Café so mag: weil es nicht hip sein will, sondern einfach unaufgeregt gute Sachen macht. Diese guten Sachen nehme ich mit nach hinten, wo die kleinen Tische stehen. An den Wänden hängen riesige Ölschinken, die teils im Laufe der Jahre etwas gelitten haben. Stuck und Kronleuchter berichten von Zeiten, in denen diese Herrlichkeit noch weniger abgewetzt war. Seit 1820 befindet sich das Café hier und ist damit das älteste in Marseille. Ich mag den etwas schrebbeligen Charme und sitze hier manchmal stundenlang. Wie soll man sich auch anders durch das Angebot probieren?
Plauchut, 168, La Canebière, 13001 Marseille
Kichererbsenfritten mit Meerblick: Panisses in L’Estaque
„Panisses muss man eigentlich in L’Estaque essen“, erklärt mir meine nette Französischlehrerin Anne auf die Frage, wo man diesen traditionellen Snack am besten probiert. Und ich glaube ihr – schließlich weiß sie auch über so knifflige Dinge wie den Subjonctif und die Anpassung des Partizips Bescheid. Also besteige ich eines eher mittelschönen Nachmittags den Bus Nr. 35 und lasse mich die Hafenkante entlang in den Marseiller Vorort Estaque fahren; ehemals ein malerischer Fischerort und Anziehungspunkt für jede Menge Maler.
Künstlerisch bemerkenswert ist der Ort heute nicht mehr; zu sehen gibt es den Yachthafen, ein paar enge Gassen und das Haus, in dem Cézanne ein paar Sommer verbracht hat. Nichts davon wäre es für sich genommen wert, dort hinauszufahren. Wenn da nicht die Buden wären, die der verführerische Duft von Frittieröl umweht! Hier probiere ich sie also, die berühmten Panisses: runde, goldbraune Plätzchen aus Kichererbsenteig, die außen knusprig ausgebacken werden, aber innen weich bleiben. Ich esse sie direkt aus der Papiertüte, mit Blick auf den Hafen, sodass ich auch die seltenen Momente erhasche, an denen die Sonne heute durch die Wolken bricht.
Tatsächlich wirkt der Tag mit diesem heißen, leicht herzhaften Snack schon gleich viel freundlicher. Beim nächsten Mal werde ich mir trotzdem eine Begleitung suchen, die mir bei dem runden Dutzend Kichererbsenplätzchen hilft, denn Panisses werden nur als „douzaine“ angeboten – eine mächtige Angelegenheit. Wir könnten uns vor eine der Bars setzen, einen Aperitif zum Knabberkram bestellen und dem Schaukeln der kleinen Boote im Hafen zusehen. So mache ich das, wenn ich das nächste Mal Panisses esse. Und vorher probiere ich vielleicht noch die Chichis, die es ebenfalls an den Buden gibt: lange Teigstangen, die frittiert und gezuckert werden.
Snackbude Chez Freddy, an der Strandpromenade von L’Estaque. Im Sommer gibt es auch eine Fähre vom Vieux Port nach L’Estaque, im Winter nur den Bus Nr. 35 von Joliette.
Pastis Henri Bardouin
Am frühen Abend nimmt Marseille einen Schritt raus. Die Bars und Bistrots füllen sich, und einen Aperitif lang läuft das Leben ein bisschen langsamer. Die einen läuten den Feierabend mit einem Bier ein, die anderen mit einem Gläschen Rosé, aber auf vielen Tischen stehen Gläser mit einer gelblich-milchigen Flüssigkeit. Pastis ist das Getränk des französischen Südens (und weil hier das Pariser Französisch kaum Einfluss hat, wird auch das Schluss-s mitgesprochen) und entstand, als Anfang des 20. Jahrhunderts der Absinth verboten wurde. Statt des legendären Kräuterlikörs, der giftiges Thujon enthielt, destillierte man eben eine thujonlose Variante auf Basis von Anis (und weiteren Kräutern und Gewürzen). Pastis wird immer mit reichlich Wasser verdünnt.
Pastis-Platzhirsch in Marseille ist die Marke 51, aber einige Bars haben auch die Marke Henri Bardouin im Angebot – man muss allerdings oft explizit danach fragen, sonst hat man die Standard-Spirituose im Glas. Ich habe die beiden mal nebeneinander verkostet. Der 51 schmeckt milder, süßlicher; beim Henri Bardouin schmeckt man stärker den Sternanis heraus, und im Hintergrund tummeln sich alle möglichen Kräuteraromen. Mir hat er sehr gut gefallen. Mitgebracht habe ich mir trotzdem keinen. Anisschnaps im Wohnzimmer zu trinken ist irgendwie nicht das Gleiche wie zum Aperitif in eine Bar zu gehen, ein Glas Pastis zu bestellen und eine Stunde lang gelassen die Welt an sich vorbeiziehen zu lassen.
Das mache ich dann hoffentlich bald wieder – in Marseille.
Hier geht es zum zweiten Teil meiner kulinarischen Reisetipps: Marseille für Foodies: 12 kulinarische Entdeckungen (Teil 2)
- Reinschmecken in Afrikas Küchen
- Marseille für Foodies: 12 kulinarische Entdeckungen (Teil 2)
Pastis Henri Bardouin schmeckt in der Tat lecker, er wird auch etwas weiter nördlich in Forcalquier hergestellt. Dort gibt es auch einen Thymian Schnaps, der mir bei Husten gut tut :-)
Den Pastis habe ich schon mal bei Kaufhof Galleria gesehen.
Das Schöne am Fischmarkt am alten Hafen ist für micht, daß es noch immer um handwerkliche Fischerei geht, nicht um die riesigen Boote, die über die Weltmeere schippern. Da kommt noch ein wenig Romantik auf. Hier hab ich mal etwas mehr darüber geschrieben: https://askan.biz/2014/09/29/fish-market-marseille-france
Oh, vielen Dank für die Ergänzungen! Dein Artikel über den Fischmarkt ist spannend. Den hätte ich mal vorher entdecken sollen! Schönes Blog.
Ich kann die Erfahrung bestätigen, dass Henri Bardouin leider nur auf Nachfrage gereicht wird. Verstehe ich zwar nicht, aber scheinbar ist das ein wahrer Geheimtipp.
Ah, danke! Das beruhigt mich, dass Du die gleiche Erfahrung gemacht hast.
Toller Artikel, ich kriege sofort Lust, mal wieder nach Marseille zu reisen, ist so lange her.
Danke! Wenn Du schon mal in Marseille warst: Hast Du dort noch andere Entdeckungen gemacht?
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Ich war bereits zwei mal in Marseille. Das letzte mal habe ich am Fischmart am alten Hafen eine Dame gesehen, die immer wieder sich Muscheln und Austern genommen hat, geöffnet und geschlüft. Die Muscheln haben sich noch bewegt.
Ich habe dann die Dame gebeten, mir auch Austern zu öffnen. Sie waren ohne Zutun wirklich sensationell gut. In zwei Wochen bin ich wieder einen Tag in Marseille. Ich hoffe, ich kann es wiederholen.