Und ich esse, obwohl jemand zuguckt!
Ein Picknick als Protestaktion? Als ich heute auf der Facebookseite von AnyBody Deutschland davon las, musste ich zweimal hingucken. Nein, es ging nicht um eine politische Massendemonstration mit Verpflegung, sondern um ein ganz normales Picknick:
… fill a bag or basket with delicious things, get out in the sunshine (where possible in the UK!) and enjoy some food.
… pack leckere Sachen in eine Tasche oder einen Korb, geh raus in die Sonne (wo auch immer das im Großbritannien möglich ist) und lass dir das Essen schmecken.
Klingt nach Selbstverständlichkeit, ist aber tatsächlich als politische Aktion gemeint. Dahinter steckt das britische Projekt Shape Your Culture, das sich gegen normierte Körperbilder richtet. Außerdem möchte es Menschen, deren Körper nicht dem „Standard“ entsprechen, zu mehr Selbstbewusstsein – und im Endeffekt gesellschaftlicher Wahrnehmung – verhelfen.
Essen in der Öffentlichkeit ist ein kleiner Schritt, der aber vielen schwerfällt. Gerade Frauen. Gerade dickeren Frauen. Vielleicht auch dünneren. Denn wer in der Öffentlichkeit isst, setzt sich damit potenzieller Kritik aus. Andere urteilen darüber, ob das gewählte Essen zu viel / zu wenig / gesund / ungesund / für die Körperform unangemessen / für die Tageszeit unangemessen / [hier weitere Kriterien einsetzen] ist.
Ich weiß nicht, wie es Euch geht, aber ich habe schon sehr häufig abfällige Bemerkungen gehört, die ungefähr so klangen: „Kein Wunder, dass die so fett ist – was die sich da gerade wieder reinstopft!“ Und niemand fragt danach, ob das Brötchen, das die Person gerade in der Öffentlichkeit isst, vielleicht der erste Bissen nach morgendlichem Im-Stau-Stehen, anschließendem Team-Meeting und hastigem Lebensmitteleinkauf ist. Und selbst wenn nicht: Wen hat’s zu interessieren?
Bei Frauen schwingen außerdem uralte, aber leider noch immer nicht in den Ruhestand geschickte Geschlechtsstereotype mit. Erinnert sich jemand an die Szene aus Vom Winde verweht, in der sich Scarlett für das große Barbecue-Picknick auf Twelve Oaks ankleidet und gezwungen wird, sich vorab zu Hause satt zu essen? (Wer auf Youtube „Scarlett dresses for the barbecue“ eingibt, findet die Filmszene – ich verlinke aus Urheberrechtsgründen hier lieber nicht direkt.) Die Begründung liefert im Roman Haushälterin Mammy:
“Ef you doan care ‘bout how folks talks ‘bout dis fainbly, Ah does,” she rumbled. “Ah ain’ gwine stand by an’ have eve’ybody at de pahty sayin’ how you ain’ fotched up right. Ah has tole you an’ tole you dat you kin allus tell a lady by dat she eat lak a bird. An’ Ah ain’ aimin’ ter have you go ter Mist’ Wilkes’ an’ eat lak a fe’el han’ an’ gobble lak a hawg.”
„Selbst wenn du dich nicht darum scherst, was die Leute über diese Familie reden – ich tu’s“, grummelte sie. „Ich werde nicht zulassen, dass alle Partygäste sagen, du seist nicht richtig erzogen. Habe ich dir nicht immer und immer wieder gepredigt, man erkennt eine wahre Lady daran, dass sie wie ein Vögelchen isst? Du wirst nicht zu Mr. Wilkes fahren und dich dort wie ein Schwein vollstopfen.“ [ref]Margaret Mitchell, Gone With the Wind, Kap. 5. Abgerufen in der Bibliothek der Universität von Adelaide. Eigene Übersetzung. [/ref]
Also: Eine Dame isst zurückhaltend und lässt niemals so niedere Triebe wie Hunger erkennen. Auch heute haben das noch viele Frauen verinnerlicht und achten in Restaurants, Kantinen und auf Partys eher darauf, was die Leute denken könnten, als worauf sie selbst Appetit haben. Und die Leute denken. Es gibt sogar eine ganze Facebook-Gruppe und einen Tumblr mit Fotos von Frauen, die in der Londoner U-Bahn essen: „Women who eat on tubes“. Nur Frauen, wohlgemerkt. Dagegen hat sich auch schon wieder Protest formiert, und die Protestierenden – na klar: essen in der U-Bahn.
Und genau deshalb ist ein Picknick politisch: Weil es zeigt, dass jede und jeder in der Öffentlichkeit essen darf. Unabhängig vom Geschlecht. Unabhängig von den Körperformen. Einfach so. Ich muss zugeben: Ich hatte noch nie Hemmungen, in der Öffentlichkeit zu picknicken. Aber beim nächsten Mal fühle ich mich vielleicht sogar ein kleines bisschen rebellisch dabei.
Liebe Leute, es ist Picknickzeit!
- Orientalischer Kartoffelsalat
- Kartoffel-Ziegenkäse-Pizza mit Grundrezept Pizzateig
Essen in der Öffentlichkeit… ist in der Tat insbesondere für Frauen ein Thema. Das ist ätzend. (interessanterweise, um kurz abzuschweifen, ist in vielen Ländern das Essen in der UBahn nicht erlaubt. Und ich finde Dönergeruch oder Pommesmief auch nicht gerade toll in der U-Bahn oder im Bus).
Hier noch ein schönes (ürks) Dings zu Frauen und Essen in der Öffentlichkeit: http://www.latimes.com/food/dailydish/la-dd-freshness-burger-liberation-wrapper-etiquette-20131108-story.html
In diesem Sinne: PICKNICK!
Ja, das Thema Dönergeruch habe ich mal bewusst ausgespart … ;-) Danke für den Link! Ich war da neulich auch drüber gestolpert, hatte das aber schon wieder vergessen. Das unterstreicht es ja noch mal ziemlich deutlich. A long way to go …
Ich muss zugeben, dass ich von solchen Gedanken (kein Wunder, dass der so dick ist…) nicht frei bin, wenn ich dicke Menschen fiesestes Fastfood essen sehe. Allerdings völlig geschlechterunabhängig.
Picknick! ist auf jeden Fall immer gut!
Liebe Grüße,
Eva
Ich glaube, richtig frei davon sind die Wenigsten, schließlich sitzen solche Verurteilungen und die dazugehörigen Wertmaßstäbe ganz schön tief. Aber ich bemühe mich, mich allmählich davon freizumachen. Da sind solche Aufrufe gut, weil die’s wieder ins Bewusstsein rücken.
Hello, The website had a bug on Firefox as the logo didn’t resize properly as it did in Chrome. All fixed now :)
Wow, thanks! That makes a real difference. *Off to change text*
Dieses „was sollen die anderen von mir denken, wenn ich (nicht) …“ beobachte ich generell zurzeit ganz stark in der Gesellschaft, gerade unter jüngeren Leuten. Ich finde das ziemlich schade, man läuft Gefahr, sich auf diese Weise vieler Erlebnisse und Erfahrungen zu berauben. Und ich dachte auch eigentlich, dass wir über diesen Punkt hinaus wären. Dass wir selbstbewusster geworden wären seit den Zeiten meiner Oma, die sich noch mit 90 Jahren an heißen Sommermittagen nicht für ein halbes Stündchen rastenderweise auf die Veranda vor ihrem Haus setzen mochte, denn: „Was sollen denn die Leute denken, wenn ich hier einfach so sitze und nichts tue???“
Bei einem solchen Vorbild wundert es kaum noch – jetzt komme ich auch endlich zum Thema Essen ;) -, wenn ihre Tochter (meine Mutter), die schon eher mager als einfach nur dünn ist, sich bis ins reife Alter von immerhin 80 Jahren noch nicht einmal ein Eis kaufen und es auf der Straße schlecken würde. Einen Kaffee trinken im Straßencafé? Undenkbar. Und selbst Essen gehen in geschlossenen Restaurant-Räumen wird mit ihr zu einem durch und durch freudlosen Unterfangen. Ständig lauert der böse Gedanke über der Tischrunde: „Was sollen die Leute denken, wenn sie sehen, dass ich mir etwas zu essen gönne???“ Da geht jeder Genuss flöten – wir vermeiden es mittlerweile, mit ihr essen zu gehen. Zu ihrem 80. Geburtstag habe ich sie und die ganze Sippe hier bei uns zu Hause bekocht – das ist dann okay. Sicher spielt bei ihr auch noch eine geradezu pietistische Prägung hinein, aber ich finde das wirklich, wirklich schade. Genießen zu können, ist wichtig, finde ich – und auch, zu lernen, sich vom Urteil „der anderen“ frei zu machen.
Hach, jetzt ist das hier ein veritabler Roman geworden. Sorry! Ich wollte ja auch eigentlich nur sagen: Ich geh‘ jetzt picknicken… :)
Danke für Deinen Roman, Barbara! Aus den von Dir hier angesprochenen Generationen kenne ich auch Hemmungen, auf der Straße zu essen (im Restaurant allerdings bisher nicht, das scheint mir ein besonders harter Fall zu sein). Früher war das ja insgesamt ungehörig; steht in alten Knigge-Büchern noch drin. Gewandelt hat sich das wohl erst, als die ersten Eisdielen aufkamen.
Du schreibst, dass sich so viele heute immer noch von dem „Was sollen die Leute denken“ leiten lassen, fändest Du schade. Ich glaube, in Sachen Essen und Körper ist es ein „schon wieder“. Diese starke Normierung, WIE man/frau zu essen und auszusehen hat, wird meiner Meinung nach stärker.
Insofern: Viel Spaß beim Picknicken! :-)