Warum so aufgeregt? 5 Thesen zur Diskussion über den Veggie-Day
Ein fleischloser Kantinentag pro Woche wird zum Sommerlochaufreger. Zugegeben, das ist schon zwei Wochen her. Dass ich jetzt trotzdem noch mal damit nachgekleckert komme, liegt daran, dass mich der Grad der öffentlichen Hysterie rund um dieses Thema doch etwas überrascht hat. Dann allerdings, nach einigem Nachdenken, auch wieder nicht. Schließlich geht es hier um Essen und Gefühle. Und die will ich doch noch mal ein bisschen auseinanderdröseln. Fünf Thesen habe ich, weshalb der Veggie-Day-Vorschlag eine solche öffentliche Empörung auslösen konnte:
1. Essen gehört zum innersten Autonomiebereich des Menschen.
Was ich in meinen Körper aufnehme, entscheide ich. Ich will die Kontrolle darüber haben, welcher Geschmack mir auf der Zunge (und in der Nase) liegt, ob ich mich nach der Mahlzeit angenehm gesättigt, voll und schwer oder leicht fühle. In der Wahl meines Essens versichere ich mich auch der eigenen Autonomie.
Davon können Eltern ein Lied singen, die ihren Kindern das Essen auf dem Teller schmackhaft machen möchten und damit lediglich zusammengepresste Lippen und eigensinniges „Will nicht!“ ernten ‒ selbst wenn die gleichen Erbsen oder Zucchini am Vortag noch anstandslos runtergingen. „Will nicht!“ heißt: Ich bin ich, und mein Wille zählt. Bei Erwachsenen ist das keineswegs anders, wird nur weniger sichtbar, weil sie in der Regel die Hoheit über ihre Essensauswahl selbst haben.
Die einzige Instanz, der wir traditionell das Recht zuschreiben, über unser Essen zu bestimmen, sind die Religionen. Viele Muslime essen kein Schweinefleisch, viele Juden trennen Milch- von Fleischgerichten, viele Hindus meiden Rind. Und Christen verzichteten jahrhundertelang freitags, am Tag der Hinrichtung Jesu, auf Fleisch ‒ die christliche Version des Fastens.
Heute hätte vermutlich auch die Kirche Schwierigkeiten, mit einem Speisege- oder verbot tief in den als privat empfundenen Bereich des Lebens hineinzuregulieren. Aber wo alte Verbote nachwirken, werden sie auch nicht infrage gestellt. Das Lustige ist ja, dass es ‒ so zumindest meine eigene Erfahrung ‒ einen fleischfreien Tag in vielen Kantinen längst gibt. Freitags stehen nämlich vielerorts Süßspeisen oder Fisch auf dem Speisezettel, ohne dass unter den Kantinenessern deshalb Revolten ausbrächen. Sicher, das ist nicht ganz das, was mit dem Veggie Day bezweckt werden soll. Aber hat jemand in der ganzen Veggie-Day-Debatte schon mal einen Aufschrei gehört, weil sich ein Kantinenesser, eine Kantinenesserin um das freitägliche Pangasiusfilet gebracht sah?
Halten wir also fest: Die Entscheidung übers Essen berührt einen wichtigen Bereich (vermeintlich) individueller Autonomie. Eingreifen dürfen an dieser Stelle höchstens religiöse Instanzen; in unserer weitgehend religionsfernen Gesellschaft dann halt niemand mehr. Freies Fleisch für freie Bürger.
2. Die Wertschätzung für Fleisch ist uns ansozialisiert.
Beim Fleisch wird ein Eingriff allerdings als besonders hart empfunden. Was damit zu tun hat, dass es beim Essen viel weniger nach persönlichen Vorlieben geht, als wir so gemeinhin glauben. Die halten sich in der Regel nämlich schön innerhalb einer kulturell vorgegebenen Bandbreite. Ein geschmacksneutrales Putenschnitzel wird bei uns viel eher akzeptiert als ein geschmacksneutrales Tofuschnitzel. (Was nicht heißen soll, dass im einen wie im anderen Fall der Mangel an Aroma sein muss.)
In Europa besitzt Fleisch traditionell einen höheren Stellenwert als pflanzliche Lebensmittel. Jahrelang warb die CMA mit dem Slogan „Fleisch ist ein Stück Lebenskraft“, und er hat sich auch deshalb so ins kollektive Bewusstsein eingebrannt, weil er im Grunde etwas auf den Punkt brachte, wovon die meisten ohnehin überzeugt waren. Es ist noch nicht so lange her (hundertfünfzig, zweihundert Jahre vielleicht), dass Gemüse und Obst als ungesunde Lebensmittel galten, von denen man nicht zu viel essen durfte. Wer konnte, aß Fleisch.
Und weil Fleisch immer teurer war als Brot oder Grütze, war und ist es auch höher angesehen. Fleischgenuss ist daher nicht zuletzt ein Zeichen für sozialen Aufstieg. Wenn ein Steak auf dem Tisch steht, dann bedeutet das auch: „Das kann ich mir leisten.“ Und trotz des Vegetarismus-Booms der letzten Jahre (oder ist es nur ein Boom vegetarischer Kochbücher?) hat sich daran nichts geändert: Wer mehr verdient, isst mehr Fleisch, so ein Ergebnis einer Umfrage, die das Meinungsforschungsinstitut YouGov im Auftrag von ZEIT online erhob.
Diese Wertschätzung für Fleisch hat in Deutschland (oder sogar in Europa?) in der Geschmackssozialisation von Generationen eine wichtige Rolle gespielt. Jeder Sonntagsbraten, jede Weihnachtsgans, das silvesterliche Fleischfondue und die österliche Lammkeule bestätigen, dass Fleisch etwas Besonderes, da besonders Wertvolles ist. Ist es da ein Wunder, dass dieses Lebensmittel mit so starken Emotionen behaftet ist?
3. Die Kantine befriedigt Sehnsüchte nach aussterbenden Gerichten.
Hinzu kommt: Die Lieblingsfleischgerichte, mit denen wir fast alle aufgewachsen sind, kommen im normalen Durchschnittshaushalt immer seltener auf den Tisch. Sauerbraten, Königsberger Klopse, Gulasch und Brathähnchen sind auf dem Rückzug, denn ihre Zubereitung erfordert Zeit und Kochkenntnisse. Zu Hause gibt es Nudeln mit Tomatensauce, die Rinderroulade gönnt man sich dagegen in der Kantine. Das jedenfalls mutmaßt der Marktführer in Sachen Gemeinschaftsverpflegung. Veggie-Day heißt damit auch: Neues ausprobieren müssen statt Bewährtes und Entbehrtes wiederessen dürfen.
4. Kantinenessen wird häufig mit Trost- und Belohnungsfunktionen aufgeladen.
Nun ist ja das bestverkaufte Gericht in deutschen Kantinen überraschenderweise immer noch die Currywurst (ebenfalls hier nachzulesen). Ein mit Erinnerungen aufgeladenes Lieblingskindheitsessen? Wohl nicht. Ein prestigeträchtiges Fleischgericht? Na ja. Currywurst gilt als Prolo-Essen, taucht als abschreckendes Negativbeispielen in allen Predigten zum Thema gesunde Ernährung auf, schmeckt bestimmt an den meisten Pommesbuden besser als in den meisten Kantinen ‒ und behauptet trotzdem seit Jahren den ersten Platz in der Hitliste der Kantinengerichte. Wie kommt das?
Wer unter Stress leidet, greift am liebsten zu sehr kalorienreichen, insbesondere sehr fettigen oder sehr süßen Gerichten, wie Ernährungswissenschaftler wissen. Das Essen wird dann als Trost oder Belohnung empfunden und hilft tatsächlich kurzzeitig gegen die Stressgefühle. Fettig ist die Currywurst tatsächlich, und reichlich zuckerhaltig ihre Sauce: das idealtypische Stressessen also.
In Kantinen dürften überdurchschnittlich viele gestresste und gefrustete Menschen mit dem Tablett in der Hand vor der Essenstheke stehen. Wer gerade eine Auseinandersetzung mit der Chefin hatte, den beruhigt die Aussicht auf den Biss in die Wurst ‒ keine Überraschungen, da weiß man, was man hat. Wer den ganzen Vormittag angesichts der Herausforderungen des Jobs die Kontrolle behalten muss, der will zumindest beim Mittagessen mal die Kontrolle aufgeben und ohne Rücksicht auf Gesundheit und gesellschaftliches Ansehen einfach das essen, worauf er oder sie jetzt gerade Lust hat. Und wer viel zu tun hat, der greift zu und denkt sich: „Das habe ich mir jetzt verdient.“
Und dann kommt die BILD und behauptet, die Grünen wollten einem das Recht nehmen, sich mit genau dem Kantinengericht zu belohnen, das man jetzt möchte? Man solle die Welt retten, indem man auf Fleisch verzichtet? Wo man doch schon im harten Arbeitsleben überall mit Verzicht konfrontiert ist: Verzicht darauf, die eigene Zeit nach persönlicher Lust und Laune zu verbringen, Verzicht auf Anerkennung, Verzicht auf Lohnerhöhung. Kein Wunder, dass die Empörung groß ist.
5. In vielen Kantinen ist das fleischfreie Essen tatsächlich eine Strafe.
Ich habe mehrere Kantinen und Mensen, teils über Jahre hinweg, kennengelernt. Das vegetarische Essen hatte eine Bandbreite von vermutlich so knapp zehn verschiedenen Gerichten, von denen fünf Pasta waren, vier irgendwelches Tiefkühl-Convenience-Zeug (Kartoffeltaschen, Nussbratlinge) und eins Spinat mit Kartoffeln und Ei. Und das geht noch schlimmer. Was M. mir von seinen ‒ nach Möglichkeit vegetarischen ‒ Kantinenessen erzählt, treibt einem wirklich manchmal die Tränen in die Augen. Weiche Nudeln mit weißem Fertigsaucenpapp? Tiefkühlsteckrübengemüse im August? Zusammengekochtes, undefiniertes Reisirgendwas mit den Gemüseresten von gestern?
Dass mit diesen kulinarischen Großtaten niemand vom vegetarischen Essen zu überzeugen ist, liegt auf der Hand. Und genau deshalb bin ich für den Veggie-Day, sofern er denn heißt: der fleischfreie Tag als Angebot, mit reichlich Unterstützung durch Schulungen, Rezepte, Information. Denn Aufklärungsarbeit in Sachen vegetarische Küche ist bei vielen Kantinenbetreiberinnen und -köchen wohl dringend geboten.
Und wenn die vegetarische Option irgendwann auch in der Kantine wirklich Appetit macht, dann klappt’s vielleicht auch mit dem Senken des allgemeinen Fleischkonsums. Gefühle lassen sich verändern. Neben der alten Wertschätzung für Fleisch wächst eine neue für vegetarische Kost. Und die Lieblingsgerichte folgender Generationen sind vielleicht gar nicht mehr Königsberger Klopse, sondern vegetarische Burritos. Hoffen wir’s.
Und was sagt ihr zu diesen Thesen? Richtig, falsch, unvollständig, total daneben? Ich freue mich, wenn ihr in den Kommentaren schreibt, was ihr davon haltet.
- Saisonal total: Blumenkohlsalat mit Tomate und Ei
- Very … äh, Scottish: Cranachan
Super!! Auf den Punkt! Besser hätte ich es nicht hin bekommen!! Genau das, was ich die ganze Zeit denke – Danke!
Danke! Freut mich.
Hallo Sabine, ein super Beitrag! Stimmt völlig, dass das Vegi-Essen in vielen Kantinen einer Strafe gleich kommt. Auch viele Gasthäuser haben noch nicht begriffen, dass drei fleischlose Speisen auf der Karte noch lange nicht ausreichen, um ein attraktives Angebot zu bieten. Kein Wunder, dass viele beim Fleisch bleiben. Würden allerdings mehr Leute wissen, wie ihr Fleisch auf’s Teller gelangt (Haltung, Fütterung, Schlachtung etc.) dann würden viele sicher freiwillig gleich einen zweiten Vegi-Day pro Woche einlegen. Aufklärung erscheint auch mir in jedem Fall die vernünftigere Variante. Alles Gute weiterhin mit Deinem lesenswerten Blog.
Prima analysiert, kurzweilig geschrieben. Punkt 1 „Essen gehört zum innersten Autonomiebereich des Menschen“ ist genau der Punkt, bei dem man gerade Veganer den größtmöglichen Einfluss hat. In dem man das vom Markt Angebotene verweigert und sich bewusst dazu entscheidet, nur das zu sich zu nehmen, von dem man genau weiß, was drin ist, wie es zubereitet wurde und wie frisch es ist, ist man wirklich autonom.
Mit Punkt 1 und ganz besonders mit Punkt 5 bin ich voll und ganz einverstanden!
Sehr gut geschrieben. Die Gedanken sind stimmig und in sich schlüssig! Ich bin als Veganer so manchem Vorurteil ausgesetzt und von daher war diese kurzfristige hirnlose Protestbewegung ein kleines Dejavue…
Weiter so, ich habe deinen Blog abgespeichert!
LG aus Berlin
Barbara: Danke! Allerdings will ich jetzt nicht so tun, als läge die gesamte Schuld bei den Kantinenköchen und -köchinnen. Wenn natürlich die Schlange bei der ollen Currywurst immer länger ist, egal, wie viel Mühe man sich mit dem vegetarischen Essen gibt, dann ist es kein Wunder, dass man eher auf die sichere Bank Currywurst setzt. Kantinen sind ja in erster Linie Wirtschaftsbetriebe, die ihr Essen verkaufen müssen.
Andrea: Stimmt, selbst entscheiden zu können ist eine große Freiheit. Aber manchmal hilft es auch, wenn einem die Wahl nicht ganz so schwer gemacht wird.
Heike Müller: Danke für die Zustimmung!
Daniel Preißler: Freut mich, dass dir das Blog gefällt! Ach ja, alles wäre einfacher, wenn sich Menschen durch die Essenswahl eines anderen nicht selbst so angegriffen fühlen würden. Ich glaube, darüber schreibe ich demnächst auch mal was …
Der Aspekt, dass Kantinen Wirtschaftsbetriebe sind, wird in der Diskussion über den Veggy-Day m.E. nach viel zu wenig beachtet.
Man stelle sich eine Firma oder Behörde vor, deren Belegschaft der Fleischkonsum wichtiger ist als vielleicht in anderen Kantinen. Wenn die Leute dann bei einem verordneten Veggy-Day plötzlich mehr oder weniger alle in die Pommesbude gehen, hat der Kantinenpächter ganz schöne Umsatzeinbußen. Wer bezahlt das?
Die Grünen?
Ein wichtiger Einwand, Flusskiesel. Aber: Meines Erachtens wird dieses „Das wollen die Leute nicht, dann gehen sie eben woanders hin“ vonseiten der Betreiber ziemlich reflexhaft vorgebracht, und zwar auf Basis der Erfahrungen mit den bisherigen Speiseplänen. Klar: Stehen an einem Tag nebeneinander Schnitzel und ein vegetarischer Bratling (bei derzeitiger Lage meist lieblos zubereitet) auf dem Plan, so wird sich in vielen Kantinen die längere Schlange beim Schnitzel bilden. Unbenommen. Aber der Veggie-Day bietet doch gerade die Chance, einmal auszuprobieren, was passiert, wenn die Schnitzelalternative fehlt. Gehen dann wirklich alle raus? Oder probieren sie nicht vielleicht doch das vegetarische Gericht, das ja möglicherweise gar nicht schlecht sein MUSS? Immerhin kann die Kantine ja in der Regel über den Bequemlichkeitsfaktor punkten: Sie ist meist die einfachste Möglichkeit, an ein warmes Mittagessen zu kommen.
Ich habe in dieser ganzen Debatte starke Déjà-vus. Bei „Jamie’s School Dinners“ haben anfangs auch alle geschrieen, dass die Kinder nie, nie, nie was anderes essen wollen als Burger und Pommes. Und dann ließen sich mit Beharrlichkeit (und einem gewissen Idealismus in Sachen gesundes Essen) doch Veränderungen erreichen.
Ich glaube fest daran, dass auch bei Erwachsenen die Bereitschaft zum Ausprobieren nicht ganz verschwunden ist. Nur bringt es halt nichts, wenn man die Gefühle nicht ernst nimmt.
Wie immer sehr gut geschrieben! Chapeau, stimme in allen Punkten zu. Vegetarisches Essen in der Mensa seinerzeit war mehr als eine Strafe. :-)
Und dass CurrywurstPommes tröstet, habe ich kürzlich nach einer langen Radtour in der Gluthitze mal wieder bestätigt bekommen. Eingekehrt, Karte gelesen, Salate angesehen und, CurrywurstPommes bestellt…
Ui, in der Gluthitze Currywurst wäre mir dann glaube ich eine zu harte Nummer, Eva! Übrigens habe ich das Gefühl, dass gerade die Mensen (oder manche davon) den Kantinen in puncto vegetarisches Essen eine Nasenlänge voraus sind – weil es in deren Zielgruppe einfach stärker nachgefragt wird.
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