Die Sache mit dem Kohlrabi, oder: Warum Regional eben nicht das bessere Bio ist
Letzten Freitag habe ich gebarcampt. Oder bargecampt, keine Ahnung, wie das korrekt heißt. Jedenfalls: Ich war beim Barcamp Hamburg, um mal wieder neue Ideen, neue Anregungen, neue Impulse zu bekommen, neues Wissen aufzunehmen, neuen Menschen zu begegnen und über neue Themen zu sprechen. Tatsächlich, ein bereichernder Tag! Ich habe gelernt, welche Fehler man beim Website-Relaunch vermeiden sollte; wie gutes Community Management geht; wie man Werbung für das eigene Online-Business hinter einem peppigen Titel und einer schicken Präsentation versteckt (und nein, das war nicht das, was ich eigentlich in der Session lernen wollte), und habe darüber diskutiert, wie wir alle dazu beitragen können, ein ähnlich böses Erwachen wie nach der Trump-Wahl bei der nächsten Bundestagswahl zu vermeiden.
Am spannendsten fand ich allerdings die Session, in der ich am wenigsten Neues gelernt habe, weil ich mich mit den Themen ohnehin ständig beschäftige. Ulf Schönheim, als „Regionalulf“ unermüdlich in Sachen regionale Lebensmittel unterwegs, stellte das Projekt Regionalwert AG Hamburg vor: Bürgerinnen und Bürger kaufen Aktien und unterstützen so ein wachsendes Netzwerk regionaler Bauernhöfe und verarbeitender Betriebe dabei, gute Lebensmittel nachhaltig zu produzieren.
Das Projekt möchte ich an anderer Stelle noch einmal ausführlicher vorstellen. Heute geht es mir um einen Gedanken aus der Präsentation, den ich so wunderbar bildhaft und einleuchtend fand, dass ich ihn unbedingt weitergeben möchte: die Sache mit dem Kohlrabi nämlich. Genauer: dem regional angebauten Kohlrabi. Mit dem Kohlrabi also, der so oft als Beweis für verantwortungsvolles Handeln herhalten muss: Hier, ich kaufe den Kohlrabi aus der Nähe, denn das ist ökologisch viel sinnvoller, als Bioware von wer weiß woher zu wählen! Der Kohlrabi kann natürlich auch ein Sack Kartoffeln oder ein Apfel sein, darauf kommt es nicht so an.
Ich habe an anderer Stelle schon einmal ausführlich erklärt, warum für mich ein Bio-Siegel in der Regel ein „Regional“-Schildchen an Apfel, Kartoffel oder Kohlrabi sticht. Ulf Schönheim hat dazu am Freitag ein weiteres und überzeugendes Argument geliefert. Und das lautet: Wer hier einen regional, aber konventionell angebauten Kohlrabi (eine Kartoffel, einen Apfel) kauft, erwirbt im Zweifel ein Produkt, hinter dem eine globale Wertschöpfungskette steht.
Das Saatgut für den Kohlrabi stammt nämlich möglicherweise von einem der Global Player im Saatgutgeschäft, die im Zweifel zu den Samen gleich die passenden Herbizide und Pestizide anbieten, alles schön aufeinander abgestimmt. All das wird unter Umständen von weither geliefert. Ach ja, und zwar jedes Jahr wieder: Samenfeste Sorten, von denen die Landwirtinnen und Gärtner selbst Saatgut fürs nächste Jahr nehmen können, gelten in dem System als geschäftsschädigend.
Die Kohlrabi-Setzlinge zieht dann möglicherweise ein spezialisierter Betrieb in den Niederlanden vor, von wo sie palettenweise quer durch Europa transportiert werden. An ihrem Bestimmungsort angekommen, werden die Pflänzchen von osteuropäischen Saisonarbeitern in die Erde gebracht.
Das Wachstum des Kohlrabis wird nun durch ein fein austariertes System aus Pflanzenschutzmitteln und Mineraldüngergaben optimiert. All das muss energieaufwendig erzeugt und transportiert werden und beeinflusst nicht nur den Kohlrabi, sondern auch die umgebende Natur und die Bodengesundheit. Und zwar nicht zum Positiven.
Zur Erntezeit rücken dann wieder die Saisonarbeiter an, ziehen den Kohlrabi aus dem Boden und legen ihn in Kisten, in denen er zum Großmarkt transportiert wird. Und schließlich liegt er im Supermarkt oder auf dem Wochenmarkt, geschmückt mit dem Wörtchen „regional“, das uns Verbraucher_innen das Gefühl geben soll, irgendwie die Kontrolle zu haben und die lokale Wirtschaft zu stärken. Auch wenn im Hintergrund globale Agrarkonzerne am kleinen Kohlrabi mitverdienen.
Das sind nicht die Wirtschaftskreisläufe, die ich stärken will. Ich werde auch weiterhin in erster Linie zu Bio-Lebensmitteln greifen. Am allerliebsten zu regionalen.
Danke, Ulf, für den erneuten Denkanstoß!
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Nun, dann kann ich nur sagen: Immer genau nachfragen, woher etwas kommt. Und dann kann regional auch wieder bio ausstechen. Zu wissen, woher es kommt gilt immer.
War gerade einkaufen: Bio-Johannisbeeren aus Südafrika: Nein, danke. Dann lieber regional angebaute aus der TK ;-), homemade
Na klar, dass es ohnehin immer auf den Einzelfall ankommt, darüber müssen wir nicht reden. Und über vollkommen unsaisonale Bioware auch nicht. Aber das mit dem „genau nachfragen“ hat halt seine Grenzen, vor allem in der Stadt, wo ich wohne. Und wenn ich beispielsweise auf dem Wochenmarkt nachfrage und erfahre, die Ware kommt aus den Vierlanden direkt nebenan – dann kann es trotzdem ein nur vermeintlich regionales Produkt sein wie in dem Kohlrabibeispiel. Und das kann mir niemand erzählen, dass er/sie bei allen Lebensmitteln mal kurz die Einzelheiten der Produktionsweise nachfragt.
Regional kann niemals BIO ausstechen. Was besagt eigentlich regional? Bei den Früchten des Ackers – auf österreichischen Territorium gewachsen. Bei den Früchten der Tiere (Milch, Fleisch) – ihr Standplatz befand sich auf österreichischen Bundesgebiet. Weitere Qualitätskriterien???
Unser Bioqualitätsversprechen geht viel weiter. Wir garantieren – kein Einsatz von Fremdenergie, z. B. Dünger aus toten Materialien u. a. aus Russland, China und Nordafrika (Freisetzung Lachgas), kein Einsatz synthetischer Pflanzenschutzmittel. Wir Biobäuerinnen und Biobauern stehen für Erhalt der Bodenfruchtbarkeit, Stärkung der Biodiversität, Einsatz organischer, regionaler Düngung, mechanische Beikrautregulierung, Schutz alter, resistenter Sorten, gentechnikfreie Futtermittel, ausreichend Standplätze für unsere Tiere, tiergerechte Fütterung – z.B. Stärkung des Grundfuttereinsatzes etc., etc.
Danke für den Kommentar! Allerdings muss man sagen, dass „regional“ aktuell wohl (durch gutes Marketing?) ein sehr positives Bild bei den Verbraucher_innen hat. Vielleicht muss die Biobranche doch noch mal stärker kommunizieren, wofür sie steht?
Es ist ein Wahnsinn, wie Landwirtschaft inzwischen funktioniert. Man kann so etwas wie du hier gar nicht oft genug schreiben und sagen. Danke dafür!
Danke! :-)
Aber wo kommen denn die Setzlinge für die Bio-Kohlrabi her? Können die theoretisch nicht auch von weit her angekarrt sein? Vielleicht kannst Du dazu was sagen, da ich mich nicht auskenne, ob „bio“ immer auch „auf möglichst kurzem Wege“ heißt. Ich fürchte nicht, oder?
Ich finde es wirklich nicht ganz einfach, sondern würde von Fall zu Fall entscheiden. Wichtig ist ja auch: Was hat gerade Saison und was wird vielleicht schon lange gelagert (und verbraucht entsprechend Strom, Wasser usw.)? Ich halte es mit Ulrike: Nachfragen ist wichtig.
Kann gut sein, dass auch Bio-Setzlinge in Holland vorgezogen werden, das weiß ich nicht, Julia. Mir ging es ja auch erst einmal darum, zu zeigen, dass ein als regional vermarktetes Produkt keineswegs regional sein muss. Ein als Bio vermarktetes Produkt dagegen muss den Regeln des jeweiligen Bio-Siegels entsprechen, und das wird auch kontrolliert. Das heißt dann auf jeden Fall schon mal: kein mineralischer Dünger, keine chemische Pflanzenschutzkeule, und Monsanto & Co. sind auch raus. Das allein würde für mich rein unter dem Umweltaspekt schon den negativen Effekt von weither angekarrter Setzlinge aufwiegen. Wobei es natürlich noch toller ist, wenn die auch regional vorgezogen werden.
Dass es wichtig ist, saisonal zu kaufen, da gebe ich dir natürlich Recht. Wobei auch da Entscheidungen durchaus schwierig sein können. Nehme ich im März jetzt eine Orange aus Spanien oder einen regionalen Apfel, der bereits ein halbes Jahr im Kühlhaus unter Schutzatmosphäre verbracht hat, oder den Apfel aus Argentinien, der deswegen energetisch sogar möglicherweise besser abschneidet? Oder verzichte ich auf Obst, bis der erste Rhabarber auf den Markt kommt?
Ich glaube, man kann nicht immer alles richtig machen.
Ein guter Artikel, der neben der CO2-Bilanz (frische Bioware, die weit geflogen ist , vs. deutsche Lageräpfel) auch mal die Wertschöpfungskette ab ovo benennt. Leider überfordert der komplexe Produktionsvorgang landwirtschaftlicher Erzeugnisse alles, was man beim Einkauf auf dem Schirm haben kann.
Mist: Unsere Mütter mussten nur darauf achten, ob das Obst frisch war und der Händler auf dem Markt das Zeug nicht mit zuviel Schwung auf die Waage warf. Unsere Töchter sollten vor dem Gang zum Supermarkt besser WW und etwas Chemie studiert haben. Geht’s noch?
Danke für den Kommentar! Was die Herausforderungen für die nächste Generation angeht, bin ich allerdings nicht so pessimistisch. Mehr Wissen produziert ja auch mehr Lösungen. Vielleicht ändert sich jetzt schon was am Lebensmittelsystem, mit vielen kleinen Projekten an vielwn Orten. Das hoffe ich jedenfalls.
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